Christina Grätz erlebt 1986 als Kind, wie ihr geliebtes Heimatdorf Radeweise in der Lausitz den Braunkohlebaggern weichen muss. Die Umsiedlung in ein fremdes Dorf und die empfundene Entwurzelung lassen sie bis heute nicht los. Anstatt aber traurig den Erinnerungen nachzuhängen, spürt Christina eine neue Energie in sich aufwachsen. Schon als Jugendliche setzt sie sich aktiv für den Naturschutz ein und engagiert sich im Braunkohlewiderstand. Diese Energie schlägt uns sofort auf dem Vierseitenhof in Jänschwalde bei unserer Ankunft entgegen und reißt uns über zwei Stunden mit. Das Angebot für einen Kaffee nehmen wir gern an: „Ich trinke nur Tee, weil ich schon genug Power habe“ ruft es aus der Küche. Dieser Satz beschreibt die junge Biologin auf den Punkt.
Ihr Studium führte sie einst in die Hauptstadt Berlin und ihre Diplomarbeit mit dem Thema „Bergbaufolgelandschaft“ dann wieder zurück in die Heimat. Durch diesen Perspektivwechsel erhielt sie einen anderen Blick auf frühere Verletzungen ihrer eigenen Geschichte. Nach dem Studium ergab sich ein interessantes Jobangebot in einem Ingenieurbüro, das auch für die LAUBAG arbeitete – also für den „ehemaligen Feind“. Die Aufgabe lautete, Feuchtgebiete nicht austrocknen zu lassen, die bergbaubedingte Grundwasserabsenkung zu dokumentieren, um frühzeitig Auswirkungen zu erkennen, Schutzmaßnahmen zu ergreifen und den Erfolg zu überwachen.
Eine weitere Hauptaufgabe: Die Natur wieder in die Landstriche zurückzubringen, aus denen sie einst verdrängt wurde.
Eine Methode ist die Mahdgutübertragung. Diese Technik wurde nie im großen Stil in die Praxis umgesetzt. Hier werden kleine Flächen gemäht und auf toten Boden übertragen. 2010 versucht sie zum ersten Mal mit Partnern, dieses Prinzip auf einer großen Fläche anzuwenden und ist überwältigt vom Erfolg. Nur ein Jahr später steht sie vor blühenden Landschaften und erntet viel Anerkennung. Die Anwohner sind am Anfang skeptisch, niemand will sich die kahlen Flächen anschauen. Inzwischen werden jährlich Exkursionen organisiert. Ein Ereignis bleibt bis heute in Erinnerung und rührt Christina Grätz zu Tränen: Ein alter Mann umarmte sie und bedankte sich für das neue Stück Heimat mit den vielen bunten Blumen.
Damit war der Grundstein 2011 für ihre eigene Unternehmensgründung und ihr Startup Nagola Re gelegt. Der Name „na goli“ kommt aus dem Sorbischen und bedeutet „in der Heide“. Mit „Re“ werden die Unternehmensleitsätze „Rekapitulieren, Rekonstruieren, Realisieren und Reagieren“ beschrieben. Den alten Hof in Brandenburg hat sie gekauft und renoviert, zu Beginn ohne fremde finanzielle Hilfen. Als Existenzgründerin wurden zunächst benötigte Kredite abgelehnt: Sie solle noch fünf Jahre warten und dann einen neuen Antrag stellen. So viel Zeit hat die Powerfrau aber nicht. Ihr Ziel ist die Marktführerschaft für Regiosaatgut und sie will loslegen, bevor andere auf diese Idee kommen. Die Nagola Re GmbH wird 2012 als innovativ und förderwürdig eingeschätzt und seitdem bei unterschiedlichen Investitionen durch Mittel des Landes Brandenburg und der Europäischen Gemeinschaft unterstützt. Mit drei Mitarbeitern ist das Unternehmen gestartet. Heute sind es 25. Seit August 2013 ist die Firma vom Verband deutscher Wildsamen- und Wildpflanzenproduzenten e. V. (VWW) zertifizierter Produzent und Anbieter von Regiosaatgut. Die Aufträge kommen aus ganz Brandenburg und über die Landesgrenzen hinaus. Auftraggeber sind Bergbauunternehmen, die Deutsche Bahn und große Straßenbauunternehmen. Die lokalen landwirtschaftlichen Betriebe werden in die Projekte einbezogen: „Das hat mehr Wert für die Leute vor Ort, denn Naturschutz und Landwirtschaft sind nicht immer im Einklang“, meint die Biologin. Ihre Erfahrungen sind durchweg positiv und sie trifft immer wieder Menschen, die sie voranbringen und begeistern.
Aus Naturliebe wurde ein erfolgreiches Geschäft. Nagola Re zeigt, wie Ökonomie und Ökologie Hand in Hand gehen können. Auf der Anrichte im Arbeitszimmer strahlen fünf Pokale mit der Biologin um die Wette. Christina Grätz und ihr Team wurden in den letzten Jahren mehrfach ausgezeichnet. Wenn es läuft, dann läuft es und die Ideen gehen der agilen Geschäftsfrau nicht aus. 2018 kommt ein weiteres Geschäftsfeld dazu: Sie wird Lebensmittelproduzentin für Wildpflanzen. Mit der Lusiza GmbH ist das Angebot komplett – von der Ernte bis auf den Teller. Die neue Aufgabe hat ihre kochfreudige Schwester übernommen und zusammen mit Christina Grätz auch die Verantwortung für die Firma als Inhaberin. „Die Menschen haben sich früher von über 2.000 Wildpflanzen ernährt, heute landen maximal noch 34 Pflanzenarten in Zuchtformen in unseren Mägen. Es gehen uns viele wichtige natürliche Nähstoffe verloren“ erklärt Christina Grätz. Auf dem Hof selbst werden 140 verschiedene Wildpflanzen angebaut. Die schwierige Ernte basiert auf einer ausgetüftelten Erntetechnologie, zu der auch umgebaute Maschinen gehören.
Übrigens: Auf dem Hof werden regelmäßig Kochkurse für Firmen angeboten und man kann im Shop Lusiza-Produkte erwerben. Mit einem Glas selbst gemachter Gemüsebrühe „Kräuterrine classic“ treten wir die Heimreise an und irgendwie erscheint uns die Landschaft auf einmal viel angenehmer und grüner.
Text: Annett Miethe | Fotos: Paul Glaser