„Ohne den Handball würde ich nicht hier sitzen“, sagt Marcel Linge. Seit 2006 ist er Stimme und Gesicht des Gründungszentrums Zukunft Lausitz in Cottbus. Der gebürtige Ortrander begann als 6-Jähriger mit dem Handball. Er war der Goalgetter in den Kinder- und Jugendmannschaften, fiel den Talentespähern auf und ging mit 12 an die Sportschule Frankfurt/Oder. „Dort gab es auf einmal Bodo, über zwei Meter groß – der stand im Mittelpunkt und ich plötzlich auf Linksaußen. Eine Position, wo du geduldig auf deine Chance wartest. Ich habe schnell gelernt, dass ich nicht der King bin, sondern Teamplayer.“

Alles begann in der Garage

Im Handball wie bei Existenzgründungen stellt sich der Erfolg nur ein, wenn es eine funktionierende Mannschaft gibt. Die hat Marcel Linge auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs in Cottbus beisammen. Sieben Festangestellte und ein Netzwerk aus freien Mitarbeitern beraten Leute, die gründen wollen. 2006 hieß das Gründungszentrum in Cottbus noch „Garage“. Es gab Unstimmigkeiten wegen der Verwendung von Fördermitteln. Ein neuer Betreiber wurde gesucht. Marcel Linge und weitere Mitstreiter hatten die „Garage“ durchlaufen und 2004 den Puls e.V. ins Leben gerufen, um die Cottbuser Gründer zu vernetzen. Zwei Jahre später übernahmen sie das Ruder. „Damit es weiterhin Gründungsberatung in der Niederlausitz gibt“, sagt Linge rückblickend. In den Ministerien in Brandenburg taufte man sie die „Jugendbrigade“, die sich schnell Anerkennung verdiente. Aus der „Garage“ wurde „Zukunft Lausitz“, die heute als eine der erfolgreichsten Existenzgründungsberatungen in Brandenburg gilt. Für die EU hat sie Vorbildcharakter. In Cottbus kann man in Augenschein nehmen, wie man sinnvoll Fördergelder einsetzt. Gut 1.000 Gründungsberatungen wurden bislang durchgeführt, weit über 500 Unternehmensgründungen gingen daraus hervor. Sowas nennt man eine herausragende Quote. Wesentlicher Erfolgsfaktor: Das Beratungsteam besteht aus Leuten, die unternehmerisch denken, selbst mal Gründer waren und damit absolut authentisch sind.

Lebensphilosophie Handball

Mit 17 Jahren spielte Marcel Linge für den SC Cottbus zweite Bundesliga. Für ihn waren es wertvolle Lehrjahre. Er stand selten auf dem Parkett. Anschlusskader heißt das offiziell. „Ich durfte mitfahren, mal die letzten fünf Minuten spielen. Ansonsten habe ich die Taschen getragen, das Wasser geholt und von den gestandenen Männern gelernt, wie man Spiele gewinnt und das Leben organisiert.“ Dem Handballsport in Cottbus blieb Linge lange treu. Nach seiner aktiven Karriere wurde er 2008 Trainer des Männerteams. Fast zehn Jahre stand er an der Seitenlinie. „Ich wurde montags immer zuerst gefragt, wie wir gespielt haben. Erst danach kam die Frage, wie es mir geht.“ Nach Niederlagen mies. Da kam es vor, dass er während der achtstündigen Heimfahrt vom Auswärtsspiel in Schleswig-Holstein komplett schwieg. „Ich brauchte das für die Verarbeitung, damit ich am Montag wieder funktioniere.“ Rückschläge verdauen und direkt weitermachen. Auch das ist eine Eigenschaft, die für den Gründungsberater Marcel Linge wichtig ist. „Wenn man gemeinsam ein Konzept entwickelt, das zur Gründung führt, ist das wie ein gewonnenes Spiel. Dann darf gefeiert werden. Es gibt aber auch Niederlagen – das sind die Ideen, die wir verwerfen müssen. Aber wir sagen unseren Gründungswilligen immer: Gib nicht auf, schlafe drüber und dann kommst du mit einer Idee wieder, die tragfähig ist.“

Junge, kommt bald wieder

Dem Bekanntheitsgrad von Marcel Linge hat seine Karriere als Spieler und Trainer in der sportverrückten Stadt Cottbus nicht geschadet. Auch davon profitiert er als „Frontsau“ des Gründungszentrums, wie er sich selbst bezeichnet. Sein Part ist von jeher Marketing, Öffentlichkeitsarbeit, Netzwerken. Nach draußen laut sein, nach innen motivieren – so definiert Marcel Linge seine Aufgabe. Businesspläne entwickeln inzwischen andere in seinem Team. Nicht dass er das nicht könnte. Linge ist Betriebswirt. Geht in den 90ern nach Düsseldorf und ist im Eröffnungsteam einer Kinokette. Nach einem Jahr wird das Heimweh zu stark. „In der Lausitz gibt es Annehmlichkeiten, die man erst sieht, wenn man mal weg war.“ Deshalb findet er es prima, dass sich sein Sohn in der Welt umschaut. Aktuell studiert er International Business im US-Bundesstaat New York. „Wichtig ist, dass die jungen Leute mit ihren Erfahrungen wiederkommen und ihre Heimat voranbringen.“  Das ist für ihn der eigentliche Antrieb. Deshalb geht sein Cottbuser Gründerzentrum in die Schulen, macht Lust auf Selbständigkeit, auf Welt entdecken und wiederkommen.

Gründerzeiten in Cottbus

Seit der Puls e.V. das Gründerzentrum Cottbus übernahm, hat sich einiges verändert. Nicht nur die Haarfarbe, wie Linge ob der Grautöne scherzt. 2006 liefen die Gründungsberatungen ein halbes Jahr. Viele stürzten sich aus der Not heraus in die Selbständigkeiten. Arbeitsplätze waren rar. Das hat sich komplett verändert. Wer jetzt ins Gründerzentrum kommt, hat eine Idee, will sich verwirklichen oder einfach raus aus dem gewohnten Trott. Die Beratungsangebote haben sich angepasst, sind modularer und finden oft auch abends statt oder am Wochenende. „Das Tempo hat angezogen. Die potenziellen Unternehmer wollen schnell wissen, ob ihr Modell tragfähig ist.“ Inhaltlich hat sich wenig verändert über die Jahre, sagt Marcel Linge. Es sind vor allem die kleinen Gründungen, die dominieren. Vom Versicherungsvertreter bis zum Graffitikünstler. Gastro, Dienstleistungen, Handel sind ganz vorn dabei. Im Handwerk fehlt es, obwohl dort riesiger Bedarf besteht. Viele Betriebsinhaber suchen Nachfolger. Auch bei den Zukunftsthemen gibt es Luft nach oben, sagt Insider Linge: „Wir haben zu wenige Gründungen, in denen technische Innovationen eine Rolle spielen.“ Zu den wenigen Ausnahmen gehört Ricardo Remus, der unter der Marke Sonocrete ein Betontrocknungsverfahren entwickelt hat und dafür den Lausitzer Existenzgründerpreis gewann.

Möglicherweise folgen weitere Innovateure durch ein neues Gründerzentrum, das die Stadt Cottbus derzeit in der Nähe der Technischen Universität Cottbus errichtet. Marcel Linge sieht es als Bereicherung, nicht als Konkurrenz. Weil er weiß, was er auch in dieses Vorhaben einbringen kann und will. Neben dem riesigen Netzwerk und der praxiserprobten Beratung ist es das Umfeld, das aus dem Klischeemalbuch stammen könnte: Gründergeist am alten Güterbahnhof, der ständig neue Inhalte gebiert. Ein Freiraum, der sich und die daran Mitwirkenden verändert und wie ein Stück Berlin in Zeitlupe wirkt. Ein Magnetort, wo sich der Bankberater und der Business Punk auf Augenhöhe locker begegnen. Ein Kreativnetzwerk direkt vor der Haustür. Kein Wunder, dass sich Linge und sein Team vor Anfragen kaum retten können. Bis 2018 durften nur Leute unter 30 Jahren beraten werden. Seitdem diese Grenze gefallen ist, finden jährlich 200 Beratungen statt. Der jüngste Gründer war 15 Jahre, der Älteste 73. „Es gibt in Südbrandenburg kaum eine Gründung, die an uns vorbeigekommen ist“, grinst Marcel Linge. Sie alle sind ihm ans Herz gewachsen. Besonders freut er sich aber über jene Erfolge, für die es besonders viel Wagemut brauchte. Wie jene von Tim Sillack, der für Steffen Henssler kochte und in die Lausitz zurückkehrte, um im Branitzer Park das alte Cavalierhaus zu einem Ort der Spitzengastronomie umzubauen. Oder die Geschichte von Jeanine Schaar, die in ihren Indoor-Spielplatz „Pipapo“ investierte. „Schön sind auch die Überraschungserfolge, die man gar nicht hat kommen sehen.“ Als Mareike Linzer mit ihrer Idee auftauchte, ein Studio für Pole Dance zu eröffnen, war die Skepsis groß. Stangentanzen in Cottbus? Mittlerweile ist ihr „Femella“ ein angesehenes Tanzstudio, das mit der „Luftfabrik“ einen Ableger in Dresden bekommen hat.

Von Brandenburg lernen

Warum wurde dieses erfolgreiche Gründungsberatungsmodell noch nicht nach Sachsen exportiert? Das liegt an den unterschiedlichen Förderprogrammen. In Brandenburg zahlt man erst für Beratung, wenn gegründet wurde. „Das ist gut für die Sensibilisierung“, sagt Marcel Linge. Offensichtlich keine schlechte Strategie. Im kfw-Gründungsmonitoring liegt Brandenburg bundesweit auf Platz 3. Sachsen ist Neunter. Linge fände es gut, wenn er auch in der sächsischen Lausitz potenzielle Gründer beraten könnte. Schließlich ist er hart an der Grenze aufgewachsen, in Ortrand. Dort, wo man sich entscheiden muss, ob man dem Roten Adler zugetan ist oder dem Goldenen Reiter. Marcel Linge mochte sich nie entscheiden. „Deshalb finde ich das Thema Lausitz auch so gut, dafür schlägt mein Herz.“ Der Mittvierziger freut sich, dass der ländliche Raum aufblüht und junge Menschen in der Lausitz Existenzen gründen. „Immer mehr Zuzügler schätzen den Platz, die Angebote der Kinderbetreuung, die Nähe zur Familie, das Grün in Hülle und Fülle. Diese Leute haben meist auch kein Problem damit, eine Stunde zur Arbeit zu fahren. Das kennen sie aus der Großstadt.“ Die Begeisterung für seine Lausitzer Heimat ist echt, das spürt man. Wie sieht er die Region in zehn Jahren? „Die Lausitz wird einen positiven Klang haben. Als lebenswerte Wohnregion mit eigenem Seenland ziehen wir viele Menschen an. Es gibt eine gute Mischung aus einzelnen großen Industrieunternehmen und vielen kleinen und mittleren Firmen, die miteinander netzwerken. Den Lausitzern wird es besser gehen, wenn wir es schaffen, als Region das Geld für den Strukturwandel sinnvoll zu verwerten.“

Linge, der Lausitzer Lautsprecher, wird seinen Beitrag dafür leisten, soviel ist sicher. Nur mit dem Sport hat er abgeschlossen. „Mein Kontingent ist aufgebraucht“, sagt er. Musik, Kunst, Natur, Sprachen lernen – das sind Dinge, die ihn jetzt mehr interessieren. „Als wenn das Leben partitioniert ist und mir sagt: Du hast noch nicht genug gelesen – fang doch mal an.“ Der Sport bleibt aber das prägende Element in seinem Leben und er empfiehlt allen Kindern und Jugendlichen: „Treibe Sport, am besten in einer Mannschaft und im Idealfall spielst du Handball. Das tut mal etwas weh, hilft aber, sich in eine Gemeinschaft zu integrieren, mit dem Team Dinge zu gewinnen und auch mit Niederlagen umzugehen.“

Text: Mike Altmann | Fotos: Paul Glaser